Die lautlose, unsichtbare Gefahr

Von Andrea Cakic

Es ist kurz nach sieben Uhr und die Sonne scheint durch die Jalousien, es ist Anfang Juli. Ein wunderschöner Sommertag nimmt langsam seinen Lauf. Der Wecker klingelt und die Musik ertönt leise aus dem Radio. Robert steht auf und macht sich für die Arbeit fertig. Die Wettervorhersage für heute lautet: 38 Grad Celsius. Man soll viel Wasser trinken und am besten bis 17h Nachmittags nicht aus dem Haus gehen, da die Gefahr vor einem Hitzeschlag sehr groß ist. Die meisten von Roberts Freunden sind schon verreist und er soll auch bald an die Adria fahren, aber zunächst erhofft er sich einen ruhigen Arbeitstag ohne Zwischenfälle.

Um acht Uhr klingelt jemand an der Tür. Das kann nur Igor der Krankenpfleger sein, der Robert zur Arbeit abholt. Robert ist ein junger Arzt, der erst vor ein und halb Monaten sein Medizinstudium zu Ende gebracht hat und seit kurzem bei der Firma „Tornado“ beschäftigt ist. „Tornado“ ist ein Privatunternehmen für Minenräumung in Kroatien. Der Arzt Robert begleitet gemeinsam mit einer Krankenschwester und einem Krankenpfleger das Minenräumungsteam der Firma „Tornado“ bei ihrer Räumungsaktion in einem kleinen Dorf im Osten Slawoniens.
Seit dem sogenannten „kroatischen Heimatkrieg“ sind schon fünfzehn Jahre vergangen, jedoch findet man immer noch dessen Spuren im alltäglichen Leben der Kroaten. Es leben derzeit Hunderttausende in Kroatien, bei denen sich in der unmittelbaren Nähe ihrer Häuser die Minenfelder befinden.
Es ist bald Mittag und das Räumungsteam, das sich in kleinere Gruppen aufgeteilt hat, ist jetzt schon seit Stunden auf dem Acker, im Wald und auf den umliegenden Wegen und macht seine Arbeit. Robert, die Krankenschwester Marija und der Krankenpfleger Igor unterhalten sich über ihre Urlaubspläne, spielen Karten, hören Musik oder schweigen einfach und entspannen, um sich die Zeit zu vertreiben, denn schließlich arbeiten sie heute bei dieser Hitze bis um 18 Uhr.
Aber kann man wirklich bei dieser unsichtbaren Gefahr, die um sie herum ist, entspannen? Robert hat früher selten über die Minen nachgedacht und hat die Stelle des Begleitarztes angenommen ohne viel zu überlegen. Die Bezahlung ist gut, man sitzt nur den ganzen Tag herum und betet zu Gott, dass keiner aus dem Team auf eine Mine tritt. Bei diesem letzen Gedanken läuft es ihm kalt den Rücken herunter und er versucht an etwas Schönes zu denken. Jedoch die drohende Gefahr wird ihm immer bewusster, schließlich befinden sie sich nun lediglich 20 Minuten vom Zentrum seiner Stadt Osijek. Es ist eine Stadt im Osten Kroatiens in der heute etwa 150 000 Menschen leben und über 50 000 Studenten studieren.
Kaum Einer kann sich vorstellen, wie nahe ihrem Lebensraum die lautlose Gefahr der Minen lauert. Robert wurde in Osijek geboren, lebt sein ganzes junges Leben dort; er verbrachte die gesamte Zeit während des Krieges im Keller seines Hochhauses und war sehr froh als diese schrecklichen Zeiten vorbei waren. Gerade wird ihm bewusst, dass diese grauenvollen Tage doch nicht ganz vorbei sind und dass sie heutzutage noch schrecklicher sind, da man sich nicht mehr im Krieg befindet, aber die Menschen dennoch den Minen und ihrer Bedrohung jeden Tag ausgesetzt sind. Seit 1991 sind etwa 1900 Personen in Kroatien durch die Minen verletzt worden und zwar 450 von ihnen tödlich, darunter 130 Kinder. Leider gehören solche Ereignisse nicht nur der Vergangenheit an sondern passieren auch öfters in der jüngsten Zeit.
Nach dem Krieg war schätzungsweise eine Fläche von 7000 km² in Kroatien mit Minen bedeckt. Seitdem wurden hunderte Millionen Euro in die Minenräumung investiert, trotzdem sind heute immer noch ungefähr 1000 km² vermint. Das bedeutet, dass es etwa 110 000 Minen gibt, die noch geräumt werden müssen.
Robert wusste viele von diesen Fakten nicht, als er seine Arbeitsstelle angenommen hat. Im Alltag redet kaum jemand über die Gefahr, die so nahe an unseren Haustüren ist, dass man sie sich gar nicht vorstellen kann. Jedoch hört man immer wieder in den Medien, dass jemand durch die Mine verletzt worden ist. Viele dieser Opfer oder ihre Angehörigen gehen in die Öffentlichkeit und beschreiben, wie schnell das passieren kann, dass man auf eine Mine tritt. Jemand geht mit seinem Hund durch den Wald laufen und landet plötzlich ohne Fuß im Krankenhaus. Ein Bauer geht seinen Acker bestellen und kehrt nie wieder nach Hause, weil er mit seinem Traktor auf eine Mine gefahren ist. Die neugierigen Kinder entfernen sich nur ein bisschen weiter von ihren Haus als erlaubt um zu spielen und zu erforschen und kurz darauf muss man den Eltern beibringen, dass ihr Kind auf eine Mine getreten ist und nie wieder spielen wird. Wenn man auf eine Mine tritt, handelt es sich um Sekunden, die das Leben für immer verändern oder es sogar beenden. In dem Moment begreift man eigentlich nicht was Einem widerfahren ist und erst wenn so etwas passiert, wird den Menschen bewusst, dass die unsichtbare Gefahr um uns lauert und dass keiner vor ihr sicher ist.
Es ist 18 Uhr, der Arbeitstag ist erfreulicherweise gut verlaufen. Keine bedeutendere Intervention, außer Verabreichung einiger Schmerzmittel und Versorgung eines Teammitgliedes, der einen Sonnenstich bekommen hat. Robert ist zufrieden und erleichtert, er kann für heute beruhigt nach Hause gehen. Dennoch ist er sich bewusst, dass es noch Jahrzehnte lang dauern wird bis seine Heimat von den Minen befreit wird. Bis dahin werden seine Landsleute der lautlosen und unsichtbaren Gefahr der Minen gnadenlos ausgesetzt sein.