Wie sehr beeinflusst der Krieg die schulische Bildung?
Von Ružica Vuković

Die Lehrerin Janja Šimić empfängt mich bei sich zu Hause. Nach der Begrüßung setzt sie sich auf ihre Couch und bittet mich darum, mit dem Interview zu beginnen.

Was waren Ihre ersten Gedanken als sie hőrten, dass der Krieg ausbricht?
In diesem Moment war ich nur von Angst erfüllt. Ich hatte Angst,
dass meiner Familie etwas zustoßen kőnnte. Ich hatte Angst davor, was uns die Zukunft bringen kőnnte. Ich habe mich hilflos gefühlt. Wir lebten in der Ungewissheit, denn wir wussten nie was uns der nächste Tag bringen würde.

Wo und wie fand der Unterricht während des Krieges statt?
Am Anfang des Krieges war es sehr c
haotisch. Die meisten Familien ergriffen die Flucht um sich zu schützen. Auf diese Weise gab es auch keinen Unterricht an den Schulen. Die ersten beiden Jahre des Krieges wurde der Unterricht in den Kellern fremder Häuser abgehalten. Um den Unterricht in den Kellern besser gestalten zu kőnnen, wurden die Schüler jeder Klasse in zwei Gruppen geteilt. Die Stunden dauerten nicht 45 Minuten sondern 30 Minuten. Schulfächer wie Sport, Musik, Kunst usw. fielen in den beiden Kriegsjahren aus. Die Kroatisch- und Mathestunden standen im Vordergrund. Als sich der Krieg dem Ende nährte arbeiteten wir mit den Kindern an den Fächern, die während des Krieges vernachlässigt wurden.

Wie benahmen Sie sich bei Bombenangriffen?
Ich fuhr damals mit dem Fahrrad zur Arbeit, während ich überall Schüsse hőrte. Jedes Mal wenn ich einen der Keller betrat, in dem ich den Unterricht abhalten sollte, konnte ich an den Gesichtern der Kinder erkennen, dass sie erleichtert waren mich zu sehen, denn sie fühlten sich durch meine
Anwesenheit sicherer. Ich hatte Angst vor den Bombenangriffen, denn jede Bombe die irgendwo in der Nähe explodierte, konnte ja auf das Haus landen in dem ich mich mit meinen Schülern befand. Als der Unterricht wieder an den Schulen stattfand, musste der Flur im ersten Stockwerk als Schutzraum bei Bombenangriffen dienen. Ich musste meinen Schülern beibringen wie sie sich bei Bombenangriffen verhalten sollten. Es war wichtig nicht in Panik zu geraten, so dass es kein Gedrängel vor der Tür gab, wenn wir den Klassenraum verlassen mussten. Ich weiß nicht wer mehr Angst hatte ich oder die Kinder.

Konnten Sie das Programm, welches für das Schuljahr vorhergesehen war, vollständig abhalten?
Im ersten Kriegsjahr hat ein Schuljahr nur drei Monate gedauert. In den Jahren darauf nur sechs Monate. Das lag daran, dass die Bombenangriffe im Winter nicht so häufig stattfanden wie in den Frühlingsmonaten. Im Frühling waren die Bombenangriffe kaum auszuhalten.
Also musste der Unterricht in den Frühlingsmonaten ausfallen.

Welcher Tag war für Sie der schlimmste von allen?
Der schlimmste Tag war der an dem die Mutter einer meiner Schülerinnen umgekommen ist, nachdem sie ihre Tochter zum Unterricht gebracht hat
te. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Ich stand an der Türschwelle und habe dabei zugesehen wie sie umkam. Ich konnte es dieser Schülerin nicht sagen. Das Kind war erst zweite Klasse Grundschule und sie hat mich gerade an diesem Tag um die zwanzig mal gefragt, ob sie ihre Mutter nach dem Unterricht abholen kommt, so als hätte sie eine Vorahnung gehabt. Ich musste ihr immer, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, mit einem „Ja“ antworten, dabei wusste ich genau, dass es dazu nie mehr kommen würde. Nach dem Unterricht und nachdem alle anderen Kinder von ihren Eltern abgeholt worden sind, habe ich sie nach Hause begleitet, weil ich wusste, dass dort viele Menschen beisammen gekommen sind, um für ihre verstorbene Mutter zu beten. Als sie ihre Mutter sah, fragte sie mich immer wieder: „Frau Lehrerin, schläft meine Mutter?“ Ich habe ihr auch diese Frage immer wieder nur mit einem „Ja“ beantwortet.

Wenn Sie die heutigen Schüler mit denen aus den Kriegsjahren miteinander vergleichen, welche Unterschiede fallen ihnen da auf?
Die Kinder der Kriegsgeneration wurden schneller erwachsen. Für sie stand das Überleben im Mittelpunkt. Bei
den heutigen Schülern erkennt man Neid gegenüber ihren Mitschülern, während die Schüler der Kriegsgeneration ihre Mitschüler als Geschwister betrachtet haben. Sie haben sich umeinander sorgen gemacht und haben einander geholfen, wo sie nur konnten. Die heutigen Kinder sind Materialisten und Kinder, deren Eltern über mehr Geld verfügen werden irgendwie zu den Anführern einer Klasse. Ich kann niemanden kritisieren, denn die Kinder sind nicht Schuld an ihrem verhalten. Die Gesellschaft macht sie zu dem was sie im Begriff sind zu werden. Ich als Lehrerin kann machen was ich will aber letzten Endes bin ich nicht ihre einzige Erzieherin.

Wie fühlen Sie sich, wenn sie heute an diese Zeit zurückdenken?
Am meisten hat mich die Frage, warum der Krieg überhaupt stattfand, beschäftigt. Bis heute habe ich keine Antwort auf diese Frage gefunden. Ich weis nur, dass
zahlreiche Kinder, Waisenkinder geworden sind, dass viele Menschen ihr Land verlassen haben, dass viele Mütter ihre Sőhne verloren haben und dass wir heute nur eine traurige Erinnerung an diese Zeit haben. Ich wünsche mir von Herzen, dass sich so etwas nie mehr wiederholt, weder in Bosnien noch in irgendeinem anderen Land.